Ein halbes Leben für ein paar Tweets

Eine Frau wurde in Saudi-Arabien zu 34 Jahren Haft verurteilt – weil sie politische Tweets geteilt hat. Was korrupte Gerichte, eine neue Form der digitalen Überwachung und die Vision des saudischen Kronprinzen miteinander zu tun haben.

Von Jakob Brenn
Bild: Jakob Brenn, Logo: Twitter

Die 34-jährige Salma Al-Schihab habe mit ihren Aktivitäten die gesellschaftliche und staatliche Sicherheit destabilisiert, so lautet es in der Anklage des Spezialisierten Berufungsgerichts. Al-Schihab hat Tweets der Frauenrechtlerin Ludschain al-Hathlul geteilt und Sätze wie ,,Ich lehne Ungerechtigkeit ab und unterstütze die Unterdrückten“, ,,Freiheit für die Häftlinge des Patriarchats“ und ,,Freiheit für politische Gefangene und alle Unterdrückten auf der Welt“ getweetet. Ihr Twitter-Account hat Stand 13.11.2022 3.278 Follower*innen. Für Twitter sind das nicht viele.

285 Tage in Einzelhaft

Die 34-jährige Doktorandin der Zahnmedizin und zweifache Mutter lebt eigentlich in Großbritannien, war aber zu einem Heimatbesuch im Königreich Saudi-Arabien. Gegen Ende des Besuchs wurde sie verhaftet, berichtete die Tagesschau am 17. August dieses Jahres. Nach Auszügen aus den der Menschenrechtsorganisation Amnesty International vorliegenden Gerichtsakten wurde sie 285 Tage lang in Einzelhaft gehalten. Nachdem der Strafprozess am 25. Oktober letzten Jahres eröffnet worden war, wurde sie Mitte 2022 zunächst zu sechs Jahren Haft verurteilt. Dieses Urteil wurde im Berufungsprozess verworfen und auf die aktuelle Strafe von 34 Jahren erhöht. Nach Ende der 34 Jahre Haft soll ein 34 Jahre langes Ausreiseverbot folgen. Al-Schihab wurde laut der Menschenrechtsorganisation Gulf Centre for Human Rights (GCHR) der Zugang zu Anwält*innen verwehrt, was einen Verstoß gegen das saudische Kriminalverfahrensgesetz bedeuten würde.

Abschreckungsversuch gegen Dissens

In diesem Fall ist das besonders brisant, denn Al-Schihabs Strafe war laut GCHR die härteste Strafe, die jemals gegen ein*e friedliche*n Aktivist*in in Saudi-Arabien verhängt wurde. Nur Wochen später aber wurde dieser traurige Rekord gebrochen, als Nourah bint Saeed al-Qahtani zu 45 Jahren Haft – auch für ihre Äußerungen und Kritik an der Regierung über Twitter – verurteilt wurde, so berichtete die Menschenrechtsorganisation ,,Democracy for the Arab World now“. Menschenrechtsorganisationen verstehen die Strafe als weiteres Vorgehen des Kronprinzen Mohammed Bin Salman gegen abweichende Meinungen. In diesem Zusammenhang wird Al-Schihabs Strafe als Abschreckungs- und Einschüchterungsversuch gesehen. Mohammed Bin Salman ist der faktische Herrscher des Königreiches.

Digitaler Autoritarismus und massive Zensur

Es ist noch unklar, wie die saudische Regierung auf Al-Schihab aufmerksam geworden ist. Der Guardian berichtete, dass Al-Schihab zwei Monate vor ihrer Verhaftung auf Twitter von einem Nutzer mit einem saudischen Account angeschrieben wurde. Dieser teilte ihr mit, er habe sie auf der saudischen App ,,Kollona Amn“, zu Deutsch ,,Wir sind alle die Sicherheit“, mit angehängten Screenshots von Al-Schihabs Posts gemeldet, da er ihre Twitter-Posts für ,,Unsinn“ hielt. Ob das im direkten Kontakt mit ihrer Verhaftung steht, ist nicht klar.

Kollona Amn ist eine offizielle App der saudischen Regierung, in der saudische Bürger*innen dazu ermutigt werden, der Regierung kriminelle Aktivitäten – oder was sie als ebendiese empfinden – zu melden. Offiziell soll die App der Polizei helfen, Fälle aufzuklären. Noura Aljizawi, eine Forscherin am Citizen Lab at the University of Toronto, sagt, die Nutzung solcher Apps repräsentiere eine neue Phase von digitalem Autoritarismus. Die App ist über den Google Play Store und Apples App Store verfügbar. Aljizawi sagt, dass die Existenz solcher Apps, in denen die Bürger*innen ermutigt werden, ihre Mitbürger*innen – eben auch für etwas so Kleines wie politische Tweets – anzukreiden, massiver Zensur die Tür öffnet. Die Menschen wüssten nicht, wer in den sozialen Medien ihre Aktivitäten beobachtet oder sich frühere Aktivitäten anschaut und diese meldet. Für absolute Sicherheit für sich selbst, müsste dann der Aktivismus in den sozialen Medien eingestellt werden. Laut Aljizawis Erfahrung in Syrien führt es auch dazu, dass die Menschen ihren eigenen Nachbar*innen nicht trauen können. Hierzulande dürfte das an die Stasi der DDR erinnern.

Das Gericht für den Schein

Das spezialisierte Berufungsgericht verurteilte Al-Schihab nach Berufung der Regierung zu einer Haftstrafe von 34 Jahren. Amnesty International veröffentlichte 2020 einen Bericht, in dem sie dieses spezialisierte  Berufungsgericht (SCC) als ,,politisches Werkzeug, um kritische Stimmen mundtot zu machen“ bezeichneten. Laut Heba Moyaref von Amnesty International, wird das spezialisierte Berufungsgericht von der saudischen Regierung ausgenutzt, um eine Aura falscher Legalität rund um ihren Missbrauch der Anti-Terror-Gesetze zu erschaffen. Diese würden missbraucht werden, um Kritiker*innen der Regierung mundtot zu machen.

Saudi-Arabiens ,,Vision  2030“

Dieses repressive Verhalten der Regierung steht im Kontrast zu Saudi-Arabiens politischen Plänen. Diese umfassen nämlich die Absicht, das Land zu modernisieren. Kronprinz Bin Salmans Projekt ,,Saudi Vision 2030“ soll Saudi-Arabien zu einer starken, global investierenden Kraft und zum ,,Herz der arabischen und muslimischen Welten“ machen. In dem Projekt inbegriffen sind verschiedene politische Sektoren. Im Zuge der Erneuerung wurden auch ein paar Einschränkungen, die die Frauen im Land betreffen, abgeschafft.  Die Menschenrechtsorganisation ,,Americans for Democracy & Human Rights in Bahrain“ kritisiert das jedoch als ,,whitewashing“, da das Land seit Jahren wegen seiner Verstöße gegen die Menschenrechte unter internationaler Kritik steht. Diese Vorwürfe umfassen unter anderem den Verdacht des Mordes an dem regierungskritischen Journalisten Jamal Kashoggi, der Inhaftierung von Aktivist*innen und der Folter dieser, zusätzlich zu unmenschlichen Haftbedingungen.

Männliches Vormundschaftssystem

Saudi-Arabien ist und bleibt vorerst ein sehr konservatives Land. Dort herrscht effektiv ein System männlicher Vormundschaft, schreibt Reuters. Trotz Lockerungen in den letzten Jahren bezüglich eigenen Personalausweisen, Reisefreiheit und dem Recht für Frauen, Auto zu fahren, brauchen Frauen immer noch die Einwilligung eines männlichen Familienmitglieds für viele wichtige Entscheidungen über ihr eigenes Leben, wie Heirat oder um alleine zu wohnen.

Trotz Lockerungen in der Sozialpolitik und Versuchen, sich zu modernisieren, bleibt Saudi-Arabien also ein ultrakonservatives Land, das immer wieder wegen verschiedenen Verstößen gegen die Menschenrechte von Menschenrechtsorganisationen aufs Schärfste kritisiert wird. Es ist ein Königreich mit einer absoluten Monarchie, in dem die Gesetzgebung immer noch auf der Religion basiert. Viele Zeichen zeigen in die Richtung, dass die saudische Regierung kriminell ist. So bleibt abzuwarten, ob die internationale Aufmerksamkeit, die Salma Al-Schihabs Inhaftierung hervorgerufen hat, etwas an ihrer Situation ändern wird.


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