Frechfröhliche Nischensuppe

Sprachrohr der Fernsehheimatlosen oder Marktanteilsflop? Rohrkrepierer oder Pille gegen den Printabstiegsstrudel? Optisch jedenfalls ist der neue lineare Fernsehsender des Springer-Verlags ein buntes Allerlei. Am 22. August feiert Bild-TV die pompöse Pracht seines einjährigen Bestehens.

Foto: © Devon Rockola/Pexels
Von Marc Ertl

Durch die grellbunte Suppe treiben wahrlich seltsame Konturen: Po-Models und von SEK-Scharfschützen umzingelte Rentner*innen, die neueste „Sexdate-Killerin“ und Kopfnüsse verteilende Pferde. Träge schwappen Berichte über Tankstellen überfallende Zwölfjährige vor sich hin, der Abwechslung halber gefolgt von einer Live-Studio-Vorführung mit Schritt-für-Schritt-Anleitung zum Sprengen von Bankautomaten. Mit der Professionalität von Schülerfernsehen erklärt ein ins Studio geholter Experte, wie Zuschauer*innen dies mit alltäglichen Baumarktprodukten bei ihrer nächstgelegenen Bankfiliale selbst bewerkstelligen können.

Nun feiert Bild-TV am 22. August bereits seinen ersten Geburtstag. Springers Trommelwirbel aus wochenlangen Vorankündigungen auf der Bild-Titelseite und deutschlandweiten Plakatierungen war an Getöse wohl schwerlich zu überbieten, gleichwohl ist das erwartete Feuerwerk zum Sendestart ausgeblieben: Der durch die Springer-Tochter WeltN24 produzierte neue lineare Fernsehsender erzielte sechs Monate lang nur durchschnittliche Marktanteile von 0,1 Prozent. Knapp über nichts, mit etwas weniger Zuschauer*innen bereits unterhalb der Grenze für seriöse Quotenmessungen. Ein Newssender für die unzähligen kleinen Leute, für die es laut Programmchef Claus Strunz bislang angeblich keine Heimat im bestehenden deutschen Fernsehen gebe? Bei Bild jedenfalls scheinen nicht viele von ihnen zu neuer Sesshaftigkeit gefunden zu haben.

Lichtblick Bombenkrieg

Doch dann die lang ersehnte Rettung für das von Quotensorgen geplagte TV-Team: Endlich Panzerkolonnen in Vororten von Großstädten, endlich Berichte über Bombardements von Lebensmittelreserven und Essensausgabeschlangen in der Ukraine! Und eine Reihe von Orkantiefs mit verheerenden Schäden an Häusern und Kraftfahrzeugen in Deutschland! Mit Berichten zur russischen Invasion in der Ukraine und den Sturmfeldern über Deutschland konnte Bild-TV seinen Tagesmarktanteil im Februar laut Presseportal schlagartig auf 0,2 Prozent verdoppeln und erreichte mit der Newssendung Bild Live sogar Marktanteile von bis zu 2,1 Prozent. Zudem erzielten die Live-Sendungen pro Sendetag bis zu weitere 1,8 Millionen Live-Views über die sozialen Netzwerke und bis zu 8 Millionen On-Demand-Views online bei Bild und über die sozialen Netzwerke. Doch die Wucht der ersten Stunden besitzen immer neue und neue Bilder aus der Ukraine von Tag zu Tag weniger, es braucht eine weitere Invasion, dann ist Bild-TV endlich attraktiv für Werbekund*innen!

Kalkül Rettungsring

Mit schnüffelndem Riechkolben und allerlei Speichelfluss hat Springer im Fernsehmarkt eine Nische für sich zu wittern geglaubt, eine unverbaute Parzelle fernab von Seriosität und Sachlichkeit. Den langen Schatten jenes zwielichtigen Ortes haben RTL und ProSiebenSat.1 mit ihrer Entscheidung, seriöser werden zu wollen, zumindest auf dem Papier den Rücken zugewandt. Und spätestens als im vergangenen Jahr auch noch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Rundfunkbeitragserhöhung den Öffentlich-Rechtlichen eine erhöhte Ausrichtung auf Sachlichkeit auferlegt hat, wurde die TV-Nische gänzlich zu unbeanspruchtem Gebiet. Wird Springers Fernsehprojekt letztlich gar dazu taugen, das weitere Dahinschwinden der Bild-Printauflage zu stoppen, jenen fortdauernden Aderlass von insgesamt mehr als 50 Prozent in den vergangenen zehn Jahren?

Ernsthafte Ambitionen verfolgt Springer mit seinem Vorstoß in den Fernsehmarkt auf jeden Fall: Der Verlag kündigte für das Projekt bereits 2019 eine Investition von 100 Millionen Euro an und schuf bis Sendestart fast 70 neue Stellen. Doch abgesehen von Talkshows und vergleichbaren Formaten sind Informationsangebote teuer, und insbesondere an Reporter*innen vor Ort spart Bild bisweilen offenbar doch den ein oder anderen Groschen: Um den Tag des Sendestarts gebührend als Großereignis zu honorieren, stand 90 Minuten lang eine Volontärin vor dem Hamburger Volksparkstadion und füllte durch das Rezitieren diverser Texte die Zeit vor dem Anpfiff eines Zweitligaspiels. Andere Berichterstattungsausschnitte sind gleich gänzlich voller seismischer Aktivität, und so zittert in den Crime-Nachrichten der Breaking News schonmal ganze Interviews lang die Kamera. Gleich im nächsten Beitrag steht der Reporter vor Ort im sackartigen schwarzen Sweater vor irgendwelchen Polizeiautos und tänzelt beim Reden wie ein nervöser Schüler beim Referatsvortrag unaufhörlich von einem Bein auf das andere.

Lidschatten-Eulen und Geisterseherinnen

In Traurigkeit verfallen aber muss deshalb dennoch niemand, denn darüber hinwegzutrösten vermag die unübertroffene Seriosität von Bild-Live-Moderatorin Céline Behringer: Laut Bild auf „quirlige Berichterstattung“, „frechfröhliche Ansagen“ sowie das Tragen greller Outfits spezialisiert moderiert sie ihr VIP-Radar dank großflächigen Einsatzes grüngelb schimmernden Lidschattens stets im zeitlosen Eulenlook. Die Talkrunden von Primetime-Flaggschiff „Viertel nach Acht“ dagegen glänzen unter der Woche ganz klar durch die Geisterbahneinlagen Nena Schinks: Zuverlässig bei jedem neuen Themeneinstieg kneift die Moderatorin zur Betonung der Dramatik ihrer Worte die Augen zu engen Schlitzen zusammen, um sie beim nächsten Satz schreckensweit aufzureißen.

Was blitzt dort auf in jenen angsterfüllten Augen? Springers ungebändigtes Bindestrichgewitter? Jener endlose Headline-Wirbel aus „Sylt-Sausen“ und „Supermarkt-Massakern“, „Russen-Gas“ und „Corona-Wahrheit“, „Wechsel-Hickhack“ und „Kabinen-Sorgen“? Jenes Fauchen und Tosen aus „Aggro-Schildkröten“ und „Horror-Rappern“, „Nackt-Nixen“ und „Motorrad-Pfarrern“, „Sex-Fallen“ und „Bayern-Beben“?

Vielleicht auch nur ein geisterhaftes Abbild von Pleite-Strunz und Quoten-Flaute.


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