Millionen virtuelle Steine für mehr Freiheit

Um Artikel auch dort zu veröffentlichen, wo die Pressefreiheit eingeschränkt ist, benutzen Reporter ohne Grenzen das Videospiel Minecraft. Hinter verpixelten Steinen eröffnet sich eine virtuelle Bibliothek, die die Autokraten dieser Welt nicht zensieren können.

Bild: Reporter ohne Grenzen
Von Karolin Arnold

Woran denken nicht-computerspielaffine Menschen wahrscheinlich zuerst, wenn sie an Spiele wie Minecraft denken? Möglicherweise an blasse „Zocker“, die tage- und nächtelang vor ihren Bildschirmen sitzen. Mit Headsets auf ihren Köpfen drücken sie energisch irgendwelche Tasten. Wer sich aber aus diesen Denkmustern herausbegibt, sieht, dass Open World Games, also Spiele, die auf weltweite Vernetzung setzen, auch ein tiefergehendes Potenzial haben. Die Uncensored Library in Minecraft, die in Kooperation mit der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) geschaffen wurde, ist ein Ort, an dem es möglich sein soll, als Journalist*in sicher, frei und überall auf der Welt verfügbar Texte zu veröffentlichen. Artikel, die frei von Einfluss von autoritären Regierungen und Machthabenden den Weg an die Öffentlichkeit finden. Mit etlichen von virtuellen Steinen haben die Verantwortlichen einen Ort geschaffen, der einen großen Teil zu mehr Pressefreiheit leisten soll. Unter dem Hashtag „truthfindsaway“ hat die Organisation in Kooperation mit einer Werbeagentur und motivierten Journalist*innen die Kampagne ins Leben gerufen. Die Medienschaffenden stammen aus Ländern, in denen Pressefreiheit weder eine Selbstverständlichkeit noch die Regel ist. Mit dem Projekt wurde eine Möglichkeit gefunden, Artikel zu veröffentlichen, die sonst nur schwer der Zensur entkommen würden.

Alle etablierten Zeitungen in Deutschland nutzen ihre Online-Plattformen, um schnell und einfach Informationen an ihre Leser*innen heranzutragen. Natürlich findet sich auch vielerlei ungefiltertes und nicht faktenbasiertes Infomaterial zu jedem erdenklichen Thema. Trotzdem ist es in Deutschland und in den meisten Staaten der EU nicht sonderlich schwer, an faktenbasierte Nachrichten zu gelangen. Außerdem ist bei uns im Grundgesetz das Recht auf freie Meinungsäußerung und damit auch auf Pressefreiheit festgeschrieben. Die Medien haben einen hohen Stellenwert und schauen nicht selten den Verantwortlichen aus Politik, Wirtschaft und Co. kritisch auf die Finger. 

Pressefreiheit ist keine Selbstverständlichkeit 

Bedauerlicherweise ist das in vielen Ländern auf der Welt nicht möglich. Dort werden nicht nur Printprodukte und Fernsehsendungen zensiert und Journalist*innen verurteilt, wenn sie kritisch oder oft einfach wahrheitsgemäß berichten. Auch das Internet wird kontrolliert, zensiert und gesperrt. Jedes Jahr veröffentlicht die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen eine Rangliste, in der aufgeführt ist, wie es um die Pressefreiheit in den Staaten dieser Erde bestellt ist. Gerade Länder, die mit autoritärer Hand geführt werden, schneiden dabei besonders schlecht ab. Länder wie Russland und Ägypten landen auf der Rangliste aus dem Jahr 2020 auf Platz 149 und 166 von 180 Aufgeführten. Diese zwei Länder besitzen jeweils einen von fünf Räumen in der Uncensored Library. Weitere drei Räume sind gefüllt mit Artikeln von Journalist*innen aus Vietnam, Saudi-Arabien und Mexiko. In der Bibliothek wurde sich auf diese fünf Länder beschränkt. Jedoch sind dies leider längst nicht alle Länder, in denen die Pressefreiheit mit Füßen getreten wird. 

Ein kreatives Schlupfloch

Um sich einen ersten Eindruck dieses fiktiven Gebäudes zu verschaffen, haben die Verantwortlichen auf der Website des Projekts die Möglichkeit eingerichtet, die Räume zu betrachten, auch ohne selbst im Spiel zu sein. Die Bibliothek reiht sich hinter ein schon vor zwei Jahren gestartetes Projekt, nämlich das der Uncensored Playlist, ein. In dieser Playlist finden sich in Liedform verfasste Texte von Journalist*innen. Die Musik dient als kreatives Schlupfloch, um ihre Informationen zu verbreiten. Sie setzten damit ein bedeutendes Zeichen gegen Zensur. Die Playlist ist immer noch auf Spotify verfügbar. Am 12. März diesen Jahres, am weltweiten Tag gegen Internetzensur, hat zudem die Uncensored Library ihre Pforten geöffnet. Es handelt sich um eine große Bibliothek, erbaut im Online-Spiel Minecraft. Errichtet wurde sie auf einem riesigen Areal. In ihr befinden sich fünf Räume, deren Inhalt einen großen Teil zu mehr Pressefreiheit beitragen soll.  Hinter den virtuellen Mauern finden sich nämlich Artikel, die in den betreffenden Ländern nicht mehr verfügbar sind. Blickt man von oben auf den virtuellen Ort, kann man nur erahnen, wie viel Arbeit im Bau, in der Planung und der Umsetzung steckt. Umgeben von Gärten und Wassergräben erscheint inmitten einer riesigen Insel das Gebäude. Menschen aus 16 verschiedenen Ländern und die kreative Idee einer Werbeagentur waren nötig, um diesen Ort im weltweit erfolgreichsten Online-Spiel zu erschaffen. 

Die Wahrheit findet ihren Weg 

Eine riesige Hand steht wenige Meter vor dem Eingang der Bibliothek und streckt mit geballter Faust einen Stift in die Luft. Ein Symbol für den Kampf gegen eingeschränkte Pressefreiheit und ein Zeichen für mutigen Journalismus. Betritt man die große Eingangshalle, steht man inmitten einer riesigen runden Halle mit einer Kuppel als Dach. Der Slogan „truthfindsaway“ schmückt den Eingangsbereich. Von da aus gehen in verschiedene Richtungen die fünf Räume ab. Diese bieten Journalist*innen aus fünf verschiedenen Ländern einen Ort für freie Meinungsäußerung, den sie in ihren Heimatländern vermissen. Die Räume sind nach den Ländernamen benannt. In den dort stehenden Büchern finden sich Artikel von Journalist*innen aus den jeweiligen Ländern. Es handele sich um ein inklusives Projekt, bei dem zusammen mit den betreffenden Medienschaffenden gearbeitet wurde. Während des Prozesses stand man im ständigen Austausch, teilt Kristin Bässe, Sprecherin von Reporter ohne Grenzen, mit. Alle Beteiligten seien schnell von der Idee überzeugt gewesen, da eine solche kreative Möglichkeit, die Zensur zu umgehen, schnell begeisterte. Doch komplett ungefährlich sei das Projekt nicht, so Bässe. Die Gefahr bestünde immer, dass Regierungen Möglichkeiten finden, die Journalist*innen für ihre dortigen Veröffentlichungen zu belangen. Deshalb achtet die Organisation darauf, dass die Artikel von Personen stammen, die entweder im Exil leben oder anonym ihre Inhalte teilen. Die Sicherheit der Journalist*innen habe oberste Priorität. In der Bibliothek selbst kann jeder auf die Inhalte zugreifen. Um dort Artikel zu veröffentlichen, muss man sich aber an Reporter ohne Grenzen wenden. Es ginge nicht um eine inhaltliche Kontrolle, sondern darum, einen Überblick darüber zu haben, was sich in der Bibliothek befinde, erklärt ROG-Vertreterin Bässe. 

Es scheint schon bemerkenswert, dass in Ländern, in denen teilweise jeder Schritt, jedes Wort und jede Äußerung versucht wird zu kontrollieren, ein Spiel wie Minecraft frei zugänglich ist. Es sei nicht auszuschließen, dass die Mächtigen der Staaten Möglichkeiten finden, in das Spiel und somit in die Bibliothek zu gelangen. Vielleicht finden sie auch irgendwann Wege, das Spiel komplett zu blockieren. Dennoch, das Spiel habe durch seine weltweite Vernetzung und dadurch, dass es auf vielen verschiedenen Servern gleichzeitig gespielt wird, die Eigenschaft, schwer zu hacken zu sein, erklärt Kristin Bässe.

Ein Ort, um junge Menschen zu erreichen und zu begeistern

Minecraft wird weltweit von mehr als 145 Millionen Menschen gespielt und zielt auf eine eher jüngere Altersgruppe ab. Dies machen sich die Verantwortlichen der Library zu Nutze. Viele junge Menschen wachsen in Ländern auf, in denen frei zugängliche, faktenbasierte und unabhängige Informationsquellen rar sind. In Minecraft wollen sie genau diese Zielgruppe erreichen. Jungen Menschen soll ermöglicht werden, einfach und ohne Risiko an vertrauenswürdige Inhalte zu gelangen. Die Reaktionen seien überwiegend sehr positiv gewesen. Nach den Angaben von ROG nutzen viele junge Spieler*innen die Bibliothek, um sich zu informieren. Viele der Minecraftnutzer*innen wüssten, wie viel Arbeit im Aufbau eines solchen gigantischen Gebäudes stecke und schlichtweg dieser Fakt beeindrucke viele, so Bässe. Zahlreiche Youtuber*innen auf der ganzen Welt, die Minecraft spielen, thematisieren in ihren Videos die Library und drücken so ihre Anerkennung aus.

Ein Einblick von Reporter ohne Grenzen

Schaut man sich Videos von YouTuber*innen an, während sie ihrer Community die Bibliothek präsentieren, hört man ständig, wie beeindruckt sie vom Bau, den Details und der Symbolik, mit der in der Bibliothek gearbeitet wurde, sind. In den Räumen befindet sich am Eingang immer ein Buch mit Informationen darüber, auf welchem Platz in der Rangliste der Pressefreiheit das Land liegt. Außerdem wird man darüber informiert, wie in dem jeweiligen Land versucht wird zu zensieren, auf wie vielen Wegen die Pressefreiheit eingeschränkt wird. Es wird auch aufgezeigt, welche Konsequenzen Internutzer*innen, Journalist*innen und Blogger*innen drohen, wenn für die Regierung unliebsame Inhalte geliked, veröffentlicht oder geteilt werden.  In der Mitte der Räume finden sich dann weitere Bücher, die Geschichten und Artikel enthalten, die im Netz der betroffenen Staaten nicht mehr verfügbar sind. In der Bibliothek aber sind sie frei zugänglich, sowohl in der Landessprache als auch auf Englisch. 

Eine wichtige Informationsquelle auch in Krisenzeiten

Obwohl keine weiteren Räume geplant sind, hat Reporter ohne Grenzen in Zeiten von Corona reagiert. So wurde der Kellerraum der Bibliothek genutzt, um dort, meist in Form von Pressemitteilungen, vertrauenswürdige Informationen über das Coronavirus zu veröffentlichen, verrät Kristin Bässe im Gespräch mit dem Publizissimus. Gerade in Ländern wie der Türkei und Iran seien das wichtige Quellen für die jungen Menschen gewesen, um zu erfahren, welche Gefahr wirklich von dem Virus ausgehe und wie die Lage tatsächlich sei. Es gehe aber auch darum zu berichten, welche negativen Effekte das Virus auf die freie Presse in vielen Ländern habe. In vielen Ländern sei der Kampf für freie und wahrheitsgemäße Berichterstattung während der Krise noch härter geworden, wie auf den entsprechenden Seiten der Nichtregierungsorganisation zu lesen ist. 

Die Uncensored Library ist ein Ort, der auf kreative Art und Weise auf ein wichtiges Thema aufmerksam macht. Durch das Spiel eine junge Zielgruppe erreicht und ein Schlupfloch für mutige Journalist*innen bietet, die im Kampf für eine freie Presse ein hohes Risiko eingehen. Kristin Bässe teilt mit, dass das Projekt für ein Jahr angesetzt sei. Danach müsse die Finanzierung und die Weiterführung der Bibliothek noch geklärt werden. Sicher ist auf jeden Fall, das Journalist*innen und Organisationen wie Reporter ohne Grenzen immer wieder Wege finden werden, Zensur zu umgehen und der Wahrheit Wege zu ebnen. 


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