Schluss mit der Prokrastination, wir wollen unseren Sinn zurück!

Etwas Neues starten, sich in Zeiten wie diesen endlich wieder sinnvoll fühlen: nichts leichter als das. Zumindest, wenn man eine zündende Idee, Motivation und für den digitalen Aspekt eine gute WLAN-Verbindung hat. Wie kann man also trotz Kontaktverbot und Pandemieplänen etwas ganz Großes schaffen?

Von Annick Weinandi

Nichts ist mehr so, wie es mal war – die Corona-Krise hat fast jeden unserer Lebensbereiche erreicht und unseren Alltag auf den Kopf gestellt. Einkaufen ist momentan nur mit Maske erlaubt, das Home-Office hat seinen schlechten Ruf verloren und ist jetzt gang und gäbe. Studierende sitzen zuhause vor dem Laptop statt in Uni-Hörsälen und verbringen die Semesterferien in der Heimat statt auf Rucksack-Tour in Südost-Asien. Doch zeitgleich mit der räumlichen Abschottung lässt sich ein vermehrtes soziales Zusammenrücken beobachten. Zu Beginn der Krise wurden Einkaufshilfen eingerichtet und abends auf dem Balkon für Pflegepersonal und Ärzt*innen geklatscht. Engagement in Zeiten von Corona findet anders statt. Mal digital aus den eigenen vier Wänden, mal in Schutzkleidung direkt am Bett von Patient*innen.

Alte Stoffreste aufbrauchen für den guten Zweck

Nichts zu tun haben und die Zeit dennoch sinnvoll nutzen wollen: So ging es Annabelle Krukow, 27, und Christopher Kovacev, 22. Die beiden sind seit knapp einem Jahr ein Paar und konnten in den letzten Monaten ihrer Arbeit als Angestellte im Theater und als Erzieher nicht nachgehen. Doch anstatt sich an Sauerteig zu probieren oder endlich mal wieder die Yogamatte auszupacken, stieß die gebürtige Mainzerin Annabelle im Internet auf eine Anleitung für selbstgenähte Scrunchies, breite Haarbänder aus Stoff. Was mit einem einzigen Haarband begann, wurde schnell zu einer Geschäftsidee: Scrunchies aus alten Stoffresten, selbstgenäht und über den eigenen Onlineshop verkauft, der Reinerlös wird gespendet. Unter dem Namen „Scrunchies für Solidarität“ verkaufen die beiden nun seit Ende März ihre Produkte und sind begeistert von ihrem bisherigen Erfolg. Bis Mitte Mai konnten sie eine Summe von über 2.000 Euro sammeln und spenden. Das Besondere: die Kund*innen können beim Kauf selbst entscheiden, an welche der ausgewählten Hilfsorganisationen sie spenden wollen. Aktuell unterstützt werden die Mainzer Tafel, das Mainzer Tierheim, das Thaddäusheim, eine Mainzer Wohnorganisation für Obdachlose, sowie der Verein „VITA“, welcher Assistenzhunde an Menschen mit körperlicher Behinderung vermittelt. Besonders auf Instagram läuft das Marketing fast von selbst. Begeisterte Kund*innen laden Bilder der Scrunchies hoch, andere Nutzer*innen sehen dies und können mit wenigen Klicks direkt zum Shop der beiden gelangen. Auch lokale Radiosender wie „Antenne Mainz“ oder „Dasding“ mit seinem Kanal „Wir sind Mainz“ tragen auf Instagram Hilfsaktionen für ihre Follower*innen zusammen und erwähnen dabei die Scrunchie-Aktion des Mainzer Paars. Sogar eine ehemalige Kandidatin der RTL-Datingshow „Der Bachelor“, Wioleta Psiuk, warb für die Scrunchies auf ihrem Instagram-Profil. Wie lange die Aktion genau laufen wird, ist nicht klar, jedoch wird es vorerst noch eine Weile weitergehen: „Solange wir noch genug Stoffe haben, werden wir weiter Scrunchies nähen“, so Christopher im Interview mit dem Publizissimus.

Digitale Nachhilfe von Studis für Schüler*innen: die Corona School

Dass eine Idee von Wenigen schnell zu einem Engagement von Tausenden heranwachsen kann, haben die Bonner Mathematikstudenten Christopher Reiners, Lukas Pin und Tobias Bork sowie der Berliner Informatikstudent Gero Embser in den letzten Monaten am eigenen Leib erfahren. Sie sind die Gründer der „Corona School“, einer Online-Plattform für digitale, kostenlose und qualifizierte Nachhilfe. Schüler*innen können sich auf der Website des Projekts anmelden und angeben, in welchen Fächern sie Unterstützung benötigen. Gleichzeitig registrieren sich Studierende mit den Fächern, in denen sie Hilfe anbieten möchten. Mithilfe von einem von Freiwilligen organisierten Screening-Prozess werden die fachliche und pädagogische Qualifikation der Studierenden geprüft und ihnen die Richtlinien der Corona School vermittelt. Ein Algorithmus teilt schließlich eine*n passende*n Lernpartner*in zu. „Aktuell haben wir über 5000 aktive Lernpaare und konnten somit die Folgen der Schulschließungen für manche Schüler*innen abfedern“, so Tobias Bork im Interview. Von den Gründern über die Helfer*innen beim Screening bis hin zu den nachhilfegebenden Studierenden arbeiten alle ehrenamtlich. Für Tobias nichts Neues, er gibt schon seit Schulzeiten regelmäßig kostenlose Nachhilfe: „Daher lag es sehr nahe, dass ich das Projekt mit Christopher, Gero, und Lukas gemeinsam angehe“.

Dass das, was die vier mit ihrer Idee angestoßen haben, gut ankommt, ist deutlich zu sehen. Die Zahlen sprechen für sich: über 12.500 Schüler*innen und 9.500 Studierende aus ganz Deutschland sind bis heute auf der Website der Corona School registriert. Teilnahmen an mehreren Hackathons, Präsenz in Medien wie der FAZ oder der WELT, Einladungen in Talk-Shows und Lob von Moderator Jörg Pilawa: das Projekt startet durch. Trotz allem Erfolg gehören auch persönliche und berufliche Abstriche für das Projekt dazu. So haben Christopher und Tobias ihre Praktika abgesagt und Mitstreiter Gero sogar seine Bachelorarbeit verschoben. Die Arbeit an Konzept, Plattform und Planung der Corona School braucht Zeit und lässt wenig Freiraum für anderes. Zehn bis zwölf Stunden investieren die vier Gründer täglich in ihr Projekt. Nach der Entstehung der Idee hieß es, keine Zeit zu verlieren – der Prototyp der Website entstand in einer einzigen Nacht. Der Algorithmus für das Matching der Lernpaare erforderte mehr Aufwand, vor allem am Anfang war noch viel händische Arbeit dabei. Mittlerweile sind die Vorgänge und die Kommunikation im Team eingespielter. Die Arbeit der vielen Freiwilligen soll sich auch langfristig lohnen, die Corona School weiterwachsen. Auch wenn der Schulbetrieb wieder weitestgehend regulär läuft, soll das Projekt als kostenlose außerschulische Unterstützung erhalten bleiben. Hierbei sollen vor allem Möglichkeiten zur Bildung abseits vom Schulunterricht geschaffen werden, die sich sonst vielleicht nicht jede Familie leisten kann. Wer nun Interesse bekommen hat, sich im Zuge der Corona-Krise ehrenamtlich zu engagieren: die Corona School sucht weiter motivierte Studierende für die Online-Nachhilfe oder auch technische Unterstützung im Bereich Web Development.

Wie es sich anfühlt, hautnah am Virus zu sein

Engagement in Zeiten von Corona findet nicht nur in den Bereichen Bildung oder Spendengelder sammeln statt, sondern auch direkt am Ort des Geschehens: auf der Intensiv-Station. In Italien wurde im März zur Bekämpfung des Virus per Gesetz 10.000 Medizinstudierenden das Staatsexamen erlassen, um mehr qualifizierte Ärzt*innen auf den Stationen zur Verfügung zu haben. Dabei werden bei weitem nicht nur diese benötigt: auch Reinigungskräfte, Personal in der Telefonberatung und Pflegekräfte sind essentiell für die Arbeit auf der Station. Auch in Deutschland wird auf die Unterstützung von Medizinstudierenden gebaut. Die Uni Mainz rief im März alle Medizinstudierende mit und ohne Berufsausbildung zur Mithilfe auf, eigens dafür wurde auf dem Universitätsportal „ILIAS“ eine Rubrik „Ich will helfen“ eröffnet. Der Mainzer Medizin-Student Rouven Höll sah den Aufruf und meldete sich. Rouven, der vor dem Studium Ausbildungen zum Gesundheits- und Krankenpfleger sowie zum Rettungsassistenten absolviert hat, war erfolgreich und wurde angenommen. Seit Mitte April arbeitete er auf der Intensivstation 2B der Uniklinik Mainz – im direkten Kontakt mit Corona-Patient*innen. Zusammen mit seinem ursprünglichen Nebenjob auf einer anderen Intensivstation der Uniklinik arbeitete der 29-Jährige zu dieser Zeit in Vollzeit.

Der Alltag auf der Station mit Corona ist anders als sonst, die harte Arbeit noch anstrengender. Die Hygiene-Standards, welche Schutzbrille, Kittel und mindestens eine FFP2-Maske vorschreiben, sind wichtig, erschweren aber auch die Arbeit. Das Atmen mit Maske fällt auf Dauer schwer, unter den Kitteln ist es sehr heiß. Rouven erzählt von knapp werdenden Schutzkitteln und von Masken, die weggeschlossen werden, wie es sonst nur bei Betäubungsmitteln der Fall ist. Durch den Mangel an üblichem Desinfektionsmittel müssen andere, nicht so hautfreundliche Produkte verwendet werden. Auf Dauer werden Rouvens Hände so immer trockener und rissiger. Die zusätzliche Belastung ist nicht nur körperlich spürbar, sie schlägt auch auf die Psyche. Besuche von Angehörigen sind außer in Ausnahmefällen verboten. Das bedeutet teilweise auch mehr Aufwand für die Pfleger*innen, die zusätzlich zur Pflege teilweise auch aufgelöste Patient*innen beruhigen müssen, die sich ohne den Kontakt zu Angehörigen allein und verzweifelt fühlen. Angst davor, sich selbst anzustecken, hat Rouven erstmal nicht. Respekt vor dem Virus aber auf jeden Fall, immerhin hat er jeden Tag mit dessen Auswirkungen zu tun. Auch sein Engagement fordert Abstriche in anderen Lebensbereichen. Nach der Schicht noch die Online-Vorlesungen anzuhören und im besten Fall noch zusammenzufassen, ist oft nicht mehr möglich. „Von Lernen kann noch gar nicht die Rede sein“, sagte Rouven im Mai, Anfang Juni hätte er eigentlich noch eine Pharmakologie-Prüfung aus dem letzten Semester nachholen müssen. Auch wenn er seinen Vertrag für die Arbeit auf der Corona-Station mittlerweile gekündigt hat, um sich wieder auf sein Studium konzentrieren zu können, fehlt ihm die Zeit, während der er auf der Station gearbeitet hat. „Innerhalb von zwei Wochen das ganze Semester nachzuholen, ist einfach nicht möglich“.

Annabelle und Christopher, Tobias und seine Freunde und Rouven: sie alle haben die Krise genutzt, um zu helfen. Jede*r mit seinen individuellen Fähigkeiten, jede*r in dem Rahmen, der möglich ist. Gemeinsam haben sie es geschafft, aus einer für sie beispiellosen, schweren Zeit etwas Gutes zu ziehen.


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