Der weite Weg zur Seriosität

Die großen deutschen Privatsender wollen ihre Nachrichtenredaktionen ausbauen und verpflichten Journalist*innen mit „Tagesschau“-Erfahrung. Was ist da los und welche Folgen hat das für die Programmgestaltung?

Von David Kulessa
Illustration: Helena Burkhardt

Als die Grünen am 19. April diesen Jahres bekanntgaben, dass Annalena Baerbock die erste Kanzlerkandidatin der Partei werden soll, war das Medieninteresse groß. Noch am gleichen Abend gab sie dem „heute-journal“ um 21:45 Uhr und den „Tagesthemen“ um 22:15 Uhr ein Live-Interview. Früher ging nicht – denn das erste exklusive Gespräch als designierte Kanzlerkandidatin gab Baerbock dem Privatsender Pro7. Der hatte schon Wochen zuvor mit der Partei vereinbart, dass er am Abend nach Bekanntgabe der*des Grünen-Kanzlerkandidat*in das erste Interview bekommen würde.

Etwas übertrieben schien die Aussage von Moderatorin Katrin Bauerfeind daher schon, dass für dieses Interview das nachfolgende Programm im Stile einer spontanen Sondersendung um 45 Minuten nach hinten verschoben wurde. Und trotzdem: Dass Pro7, eigentlich nicht für politische Talkformate bekannt, solch ein Exklusiv-Interview bekommt, hat viele überrascht. Genauso wie die Tatsache, dass es ohne Werbeunterbrechung gesendet wurde.

Dabei hatte Pro7 bei diesem Thema bereits vor einigen Wochen Schlagzeilen gemacht, als am Abend des 31. März der Aktion #NichtSelbstverständlich sogar sieben werbefreie Stunden eingeräumt wurden. Die Dokumentation, die auf Initiative des bekannten Moderatoren-Duos Joko & Klaas produziert und um 20:15 Uhr gezeigt wurde, begleitete eine Pflegekraft bei ihrer siebenstündigen Schicht in einem Münsteraner Krankenhaus – ohne Schnitt und aufgezeichnet von einer Kamera, die die Pflegerin umgeschnallt hatte.

Pflege ist #NichtSelbstverständlich von Joko & Klaas

Immer wieder kamen zudem weitere Pflegekräfte zu Wort. Das Ergebnis ist eine außergewöhnliche, eindrückliche und vor allem authentische Dokumentation des Pflegenotstands in Deutschland.

Doku über Rechtsextremismus zur Primetime

Formate wie diese passen zur Ankündigung der Pro7Sat1-Senderfamilie, in Zukunft mehr gesellschaftlich relevante Themen ins Programm aufnehmen zu wollen. Zudem sei eine 60 Personen starke Nachrichtenredaktion in Planung. Ein weiteres Beispiel für die Neuausrichtung ist die viel beachtete Doku „Rechts. Deutsch. Radikal.“ von Thilo Mischke, die einen tiefen Einblick in die rechtsextreme Szene in Deutschland gibt und am 28. September 2020 zur Primetime auf Pro7 lief. Unter anderem der entlarvende Satz des AfD-Pressesprechers „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD“ stammt aus dem Film.

Der 40-jährige Thilo Mischke war auch der Co-Moderator beim Baerbock-Interview. Ob er und seine Kollegin Katrin Bauerfeind auch in Zukunft erste Wahl bei solchen Formaten sein werden, scheint allerdings fraglich, denn die Nachrichtenredaktion von Pro7 hat ihren ersten namhaften Neuzugang bekommen. Linda Zervakis, die seit 2013 „Tagesschau”-Sprecherin war, hat die ARD kürzlich in Richtung Pro7 verlassen. Jan Hofer, der sogar 35 Jahre als „Tagesschau“-Sprecher vorweisen kann, ist bereits zu RTL gewechselt. Bis vor wenigen Tagen tanzte er noch munter über das Parkett der Tanz-Show „Let’s Dance“. Bald widmet er sich allerdings wieder dem aktuellen Weltgeschehen und moderiert eine Nachrichtensendung im Abendprogramm des Privatsenders RTL.

Weitere Details sind noch nicht bekannt, doch auch die RTL-Group mit Mutterkonzern „Bertelsmann“ plant wohl schon seit längerem die „Etablierung als Medienhaus mit positiver gesellschaftspolitischer Strahlkraft“. Das schreibt jedenfalls der „Spiegel“, der zudem berichtet, dass eine Fusion „Bertelsmanns“ mit dem Verlag „Gruner + Jahr“ (z.B. „Stern“, „Geo“) in Planung sei, die eine Zusammenarbeit von Fernseh- und Printjournalist*innen vorsehe. Dadurch solle das Informationsprogramm ausgebaut werden.

„Der größte Umbruch seit Einführung des dualen Rundfunksystems“

Abgebaut werden sollen hingegen scheinbar Inhalte, bei denen es vordergründig darum geht, andere Menschen bloßzustellen. Zwar sind Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“ noch nicht abgesetzt, aber immerhin wurde die Zusammenarbeit mit Dieter Bohlen nach knapp 20 Jahren beendet. Auch Figuren wie Xavier Naidoo und Michael Wendler, die zuletzt vor allem mit ihrer Affinität zu Verschwörungstheorien Schlagzeilen machten, scheinen nicht mehr ins Programm zu passen. Sat1 hingegen versäumte es kürzlich, den unter anderem wegen Menschenhandels vorbestraften Marcus von Anhalt aus der Sendung „Promis unter Palmen“ zu werfen, nachdem dieser sich grob homophob geäußert hatte. Dass er überhaupt eingeladen wurde, ist fragwürdig genug und zeigt, dass der Weg hin zur Seriosität und gesellschaftlichen Relevanz für die Privatsender ein weiter ist. 

Der „Spiegel“ ist sich dennoch sicher: „Das deutsche Fernsehen steht vor seinem größten Umbruch seit Einführung des dualen Rundfunksystems 1984“. Vielleicht müssen auf diesem Weg gewisse Fehler schlicht verziehen werden. Zum Beispiel, wenn Katrin Bauerfeind und Thilo Mischke am Ende des Interviews ihrem Gegenüber Annalena Baerbock applaudieren. 

Linda Zervakis und Jan Hofer wäre das vermutlich nicht passiert.


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