Der Aufstieg und Fall von Thomas Shelby

Das Warten hat ein Ende: Am 10. Juni veröffentlicht Netflix die letzten sechs Folgen der Kult-Serie Peaky Blinders. Bevor die historische Gangster-Serie nach knapp neun Jahren endet, lohnt es sich, einen Blick „in den Rückspiegel“ zu werfen. Warum wurde die Shelby-Familiensaga vom Geheimtipp zum Blockbuster?

Von Karim Hartel
©Emilia Papadakis

Die Brüder Arthur, Thomas und John Shelbysinddrei Kriminelle aus Birmingham, England, kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs. Wie fast alle Männer aus dem von Schwerindustrie geprägten Viertel Small Heath dienten sie im Krieg.

Im Laufe der Serie wird nur angedeutet, was sie genau im Krieg erlebten. Aber, dass sie der jahrelang andauernde Höllenritt veränderte, spiegelt sich in jedem Gespräch und jeder gewaltsamen Konfrontation wider. Der Schrecken des Krieges, das Töten und die Angst, selbst getötet zu werden, lässt sie nicht mehr los. Zurück in Birmingham scheinen die drei Brüder mit Roma-Wurzeln ihr Überleben als Geschenk des Schicksals zu betrachten, als „Extrazeit“. Sie wollen leben! Mit allem, was dazu gehört.

Sie gründen die gefürchtete Straßengang Peaky Blinders und ihnen ist (fast) jedes Mittel Recht, ihre eigenen Taschen zu füllen und konkurrierende Gangster, Polizisten, Kommunisten, Politiker oder IRA-Terroristen zu überlisten.

Ein Pokerface mit Strategie und Coolness

Kopf und strategischer Motor der Gang ist Thomas Shelby. Sein Kalkül und seine Gerissenheit gepaart mit einer inzwischen legendär gewordenen Coolness sind Folge für Folge das Highlight der Serie. Die stahlblauen Augen des Schauspielers Cillian Murphy und sein kaum zu erschütterndes Pokerface parieren jede der Drohungen, die eine schier unendliche Menge an Wichtigtuern im Laufe der Jahre ihm gegenüber äußert.

Es scheint, als ob er allen immer einen Schritt voraus ist und dass er die Geheimnisse der menschlichen Natur gut genug kennt, um zu wissen, wie er seine Gegner am besten sabotiert. Egal wie aussichtslos viele Situationen erscheinen, Thomas findet dank Mut, Korruption und eines Informantennetzwerks, auf das ein Geheimdienst eifersüchtig wäre, immer einen Weg aus den heikelsten Lagen.

In den ersten drei Staffeln steigt seine Familie aufgrund seiner gnadenlosen Zielstrebigkeit schnell auf und Thomas hat den Geschäftssinn und die nötige Brutalität, um zum König der britischen Halbwelt zu werden. Wie Thomas seinen Reichtum aufbaut, steht selten im Mittelpunkt der Erzählung und wechselt mit rasanter Geschwindigkeit.

Anfangs bieten die Shelbys den armen Bewohnern von Small Heath die Möglichkeit, illegal auf Pferderennen zu wetten, wenig später werden sie Besitzer eines Pubs, gründen eine Firma, schmuggeln Whiskey, kaufen Luxusimmobilien und Fabriken, stehlen Juwelen oder destillieren Gin.

Nur Zusammenhalt produziert Stärke

Im Zentrum der Serie steht immer die Familie und bedingungslose Loyalität. Die Shelby-Brüder, ihre Schwester Ada und ihre Tante Polly verstehen, dass ihr Zusammenhalt der einzige Weg ist, langfristig in einer Welt zu überleben, in der jegliche Schwäche von ihren Gegnern sofort ausgenutzt wird. Doch diese Loyalität wird immer wieder auf die Probe gestellt. Wie Thomas das Geschäft lenkt und dass er viele Details seiner Pläne geheim hält, sorgt regelmäßig für Spannungen zwischen den Familienmitgliedern.

Nicht selten fühlen sie sich wie stimmlose Spielfiguren: abhängig von Thomas’ Entscheidungen und ohne echte Selbstbestimmung über das eigene Schicksal. Ihre Nähe zu Thomas macht sie häufig zur Zielscheibe diverser Rivalen, was die Familie nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst stärker zusammenschweißt.

Auch sympathische Bösewichte sind trotzdem Bösewichte

Peaky Blinders ist außergewöhnlich aufgrund vieler Faktoren: Die vielschichtigen Figuren, die stark verwobenen Handlungsstränge und eine Kostüm-, Set- und Kameraarbeit par excellence. Im Kern ist es jedoch das größte Wunder, dass die Serie ohne echte Sympathieträger*innen auskommt. Im Finale der ersten Staffel sagt der ehemalige Besitzer des Pubs (den die Peaky Blinders zwar zu einem fairen Preis, aber auch mit Androhung von Gewalt übernahmen) zu Thomas: „Was ich so höre… alle wollen, dass Sie die Schlacht gewinnen. Vielleicht weil Sie Bösewichte sind, aber unsere Bösewichte.“

Die Männer von Small Heath wollen, dass Thomas Erfolg hat mit seinen Plänen, egal wie abscheulich seine Methoden auch sind, weil er einer von ihnen ist. Genauso geht es der zuschauenden Person. Man möchte glauben, dass Thomas und seine Familie im Herzen gute Menschen sind, die sich nicht mit einem armen, machtlosen Leben in einem von Rassismus geprägten England abfinden wollten. Im Endeffekt sind sie doch nur Überlebende in einer gnadenlosen Welt!

Der Trailer zur 6. Staffel

Aber natürlich kann man nicht behaupten, dass Thomas ein Held ist oder dass die Taten seiner Gang gerechtfertigt sind. Dennoch gönnen wir ihm sein Glück mehr als den vielen Gegenspielern, die sich mit ihm messen wollen.

Je höher der Aufstieg, um so tiefer der Fall?

Nachdem er auf dem kürzlich erworbenen Landsitz seiner Familie mit der Liebe seines Lebens, Grace, und seinem Sohn Charles, seinen Aufstieg aus den Slums von Birmingham feiern möchte, kommt es zu einer Reihe persönlicher Katastrophen. Das Fundament seines Imperiums zeigt erste Risse und seine vergangenen Siege haben unvorhersehbare Konsequenzen. Der Fall des bislang unaufhaltsamen Thomas Shelby scheint vorprogrammiert.

Die sechste und letzte Staffel lief bereits auf BBC One diesen Frühling in Großbritannien und bekam in der ersten Folge die höchste Einschaltquote, die Peaky Blinders je bekommen hat. Ausgerechnet in einer Ära, in der vermehrt gesagt wird, dass nur noch Streaming zählt, hat diese Serie es geschafft, auch im linearen Fernsehen mit jeder neuen Staffel mehr Zuschauer*innen zu locken. Ihr popkultureller Einfluss ist so groß, dass beispielsweise die britische Barbershop-Kette Ruffians im Nachhinein die Popularität von Undercut-Haarschnitten in den 2010er Jahren unter anderem Thomas Shelby zuschreibt. Ansichten wie diese verfestigen den Legendenstatus seines Charakters noch mehr: Thomas ist nicht nur ein Antiheld, der uns in seinen Bann zieht. Viele Zuschauende und Fans wollen sich mit ihm identifizieren, wie das Magazin GQ bilanziert. Ab dem 10. Juni kann jede*r erfahren, ob der Drehbuchautor Steven Knight Thomas wirklich zu Fall bringen wird oder ob er ihm aus noch unerklärlichen Gründen ein Happy End gönnt.


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